Wir haben Journalismus
mit Pädagogik verwechselt

Die Vertrauenskrise hat vor den Medien nicht haltgemacht. In seiner Dankesrede als Kurt-Vorhofer-Preisträger 2024 spürte Chefredakteur Hubert Patterer
den Gründen der
Entfremdung nach.

Die Medien haben zwei Nackenschläge erlitten, den ersten im Nachhall der Zuwanderungswelle 2015, den zweiten in der Pandemie. Beim ersten sangen Zeitungen und Rundfunk im Chor mit den Regierenden das Lied der Willkommenskultur. Das war als Impuls menschenfreundlich, aber es schuf einen normativen Druck und diskreditierte jede Widerrede, jedes Fragezeichen, jedes stille Unbehagen als fremdenfeindlich.

Wir sollten raus aus der schrillen Überzeichnung und rein in die Zwischentöne und Zwischenräume, dorthin, wo wir uns der Wahrheit am ehesten
annähern können.

Die Leute spürten, dass das Veröffentlichte mit dem, was sie wahrnahmen, nicht übereinstimmte. Sie wurden misstrauisch gegenüber Glättungen im Dienst des Guten. Sie wurden misstrauisch gegenüber Zurufen aus kulturell privilegierten Welten, die mit den Alltagskonflikten kaum je in Berührung kamen. Die Leute erkannten, dass Medien die Herkunft von Tätern verschwiegen; dass sie Kriminalitätsstatistiken veröffentlichten, die nicht die ganze Wahrheit erzählten, und – so wie die Politik – Konflikte verschleierten in der Befürchtung, sie könnten den Falschen in die Hände spielen. Bekamen die Falschen trotzdem ungebremst Zulauf, bezichtigten Medien die Wähler der Unreife und Unvernunft. „Österreichs rechter Sündenfall“, schrieb eine geschätzte Zeitung nach dem Wahlsonntag. So stempelt man Stimmbürger zu Sündern. So tritt man der Leserschaft als erzieherische, moralische Obrigkeit gegenüber. Ähnlich verhielt es sich, ich betrete abschüssiges Gelände, mit den plötzlichen Kunstpausen beim Sprechen im Rundfunk. Dieses Sprechen war ein Vor-Sprechen. Wir verwechselten Pädagogik mit Journalismus. Nicht alle. Nicht immer. Aber zu lange. Es kostete Vertrauen und trieb die Entfremdung voran.

In der Pandemie wiederholte sich die Rollenverteilung zwischen Vormund und Mündel. Wieder waren WIR es, die den Leuten sagten, was sie zu tun und zu lassen hätten. Wieder waren wir Gouvernante. Im guten Glauben an die Notwendigkeit rapportierten wir Anweisungen für das Verlassen der Häuser, die Spaziergänge im Park, das Impfen oder das Feiern unter dem Christbaum. Selbst die besten Gründe änderten nichts daran, wie man unsere neue Rolle wahrnahm: Wir waren Spediteure ministerieller Erlasse und für die, die sich abwandten, Gekaufte. Noch heute gibt es Newsletter, die mit dem Aufruf schließen, sich die Hände zu waschen. Es erinnert mich an die Lienzer Konviktszeit, da wuschen wir sie in Zweierreihe. Wir werden in der Rolle als Erziehungsberechtigte die Transformation von der alten in die neue Zeit nicht hinkriegen. Wir sollten raus aus der Nummer.

Das hieße auch: raus aus der Suchtanstalt der Social-Media, raus aus der Dauerpräsenz und Selbstbezogenheit. Es ist der Ort, wo wir uns dem falschen Publikum zuwenden, dem Blasen-Publikum, und das Eigentliche vernachlässigen. Die sozialen Netzwerke sind wichtig als Informationsquelle, aber kein guter Raum fürs Publizieren. Sie fördern zweifelhafte Eigenschaften, die Eitelkeit, das Zählen von Gefolgschaft, Follower, ein verräterisches Wort, sie fördern das, wovon wir uns abgrenzen sollten: das ungefilterte, schwellenlose, reflexhafte Sprechen, die knallige Emotion, die Polemik, das Abwertende, die Punze, die wir anderen draufknallen, wenn jemand ungut wird, die Diskreditierung und Gnadenlosigkeit; vor allem fördern sie den Konformismus, die Selbstähnlichkeit, den Gleichklang. Die virtuelle Gruppendynamik macht uns zum Rudel, wir teilen und assimilieren uns, applaudieren einander und blocken die, die uns zu nahekommen. Das macht uns dünnhäutig und divenhaft. Wir sollten wieder mehr an die frische Luft, raus zu den Geschichten, wir brauchen mehr echte Begegnungen, dann treten wir dem, was draußen an Schwingungen abgeht wie letzten Sonntag, mit weniger Ratlosigkeit und Fassungslosigkeit gegenüber.

Wir sollten raus aus dem schnellen Du und der falschen Nähe, raus aus der Beschleunigung und zurück zu den klassischen Tugenden des nüchternen Abwägens, das den anderen und die Gegensicht miteinbezieht und wo sich erst dann das Urteil in die eine oder andere Richtung neigt. Also runter vom Gas. Dann kann es auch nicht passieren wie am Sonntag, als wir am Abend wortreich eine Wirklichkeit analysierten, die es noch gar nicht gab und die sich später, vor Mitternacht, als teilwahr herausstellte.

Wir sollten raus aus der schrillen Überzeichnung und rein in die Zwischentöne und Zwischenräume, dorthin, wo wir uns der Wahrheit am ehesten annähern können. Die Lieblingstugend meines ehemaligen Germanistik-Professors und Altphilologen Alois Brandstetter war die Mâze, die mittelhochdeutsche Entsprechung für das Maßhalten. Er beschwor sie als höchste geistige Disziplin. Wir verstoßen gegen sie in Permanenz. Wenn sich ein gefährlicher Haufen Verblendeter in einer Potsdamer Villa trifft, rufen wir „Wannsee 2.0“ aus, die Chiffre für den industriellen Massenmord; bei den geistig und ideologisch Wohlstandsverwahrlosten auf Sylt die Staatskrise. Wenn die Rechtsnationalen in Europa wegen fortgesetzten Versagens in der Steuerung der Migration zulegen, sehen wir den „Trump-Moment“ gekommen. Und wenn wir im Index der Pressefreiheit abrutschen, lassen wir uns in die direkte Nachbarschaft von Mauretanien stellen, ohne dass jemand den Unfug geradegerückt hätte, wir auch nicht. Mauretanien, wo der Abfall vom Glauben mit dem Tod bestraft wird. Wir sind immerzu entflammbar, immerzu sprungbereit, immerzu im roten Drehzahlbereich, immerzu am Anschlag. Das macht uns stumpf, uns und unsere Waffen. Wir werden im Ernstfall, wenn wirklich alles auf dem Spiel stehen sollte, kein Instrumentarium mehr dafür haben.

Vor allem aber sollten wir raus aus der schlechten Laune, die wir verströmen. Das Defizitäre und Dysfunktionale gehören benannt, es ist unser Job, aber wir tun uns unendlich schwer, anzuerkennen, was gelingt. Wir sind in den Augen vieler zu einem Organ des Mieselsüchtigen geworden. Das macht uns und die Inhalte unsexy. Die Leute wollen nicht die Decke über den Kopf ziehen, wenn sie uns aufschlagen oder aufdrehen. Das Schlimme ist: Wir haben die schlechte Laune auf die Branche übertragen. Journalismus war ein stolzer Beruf, heute hemmt ihn viel Verschrecktes und Verzagtes. Diese Zukunftsangst ist lähmendes Gift. Hören wir auf mit den Requien und Untergangsgesängen. So kann kein Aufbruch gelingen. So wie die Politik neue Zukunftserzählungen braucht, brauchen auch wir sie für uns und unsere Arbeit. Die Zuversicht, dass diese unsere Arbeit gebraucht wird, mehr denn je, als Beitrag für die Demokratie und das Zusammenleben.

Und die Politik? Sie muss uns nicht alimentieren. Wir sind kein Pflegefall. Womit Schluss sein muss: Medienförderung als Boulevardförderung, Anzeigen gegen Wohlverhalten. Deals. Was wir brauchen, ist eine Medienförderung nach transparenten Qualitätskriterien. Eine stützende Absicherung, damit die Information zu den Bürgern kommt und die Medienlandschaft nicht versteppt. Was wir brauchen, ist eine Medienpolitik, die faire Wettbewerbsbedingungen schafft, im Analogen wie im Digitalen; die nicht nur den ORF absichert, der als Identitätsanker unverzichtbar bleibt, sondern auch die privaten Verlage und ihre regional verwurzelten Zeitungen in diesen Ordnungsrahmen zwingend miteinbezieht. Das muss man von Medienpolitik, die den Namen verdient, erwarten können.

Das ist ihr Job, dann können wir unseren machen.